Offener Brief an die Bildungsministerin

Download des offenen Briefes an die Bildungsministerin

An Frau Ministerin
Prof. Dr. Wara Wende
Ministerium für Bildung und Wissenschaft
des Landes Schleswig-Holstein
Brunswiker Straße 16-22
24105 Kiel

Bad Schwartau, den 12.12.2012


Gerechtere Bildungschancen für alle Kinder
Kinder- und Jugendärzte sowie Kinder- und Jugendpsychiater sehen zunehmende
Probleme bei Grundschülern

Sehr verehrte Frau Ministerin,

mit Interesse und Freude haben wir Ihre Ziele als Bildungsministerin zur Kenntnis genommen - damit haben Sie Erwartungen geweckt. Wir wenden uns mit einem offenen Brief an Sie, um als Kinder- und Jugendärzte, Kinder- und Jugendpsychiater und –psychotherapeuten sowie Sozialpädiatrische Zentren unsere Beobachtungen, Sorgen und Wünsche zum Thema Bildung in die öffentliche Diskussion mit einzubringen.
Mit großer Sorge beobachten wir in den letzten Jahren eine Zunahme der Erstvorstellung von Grundschülern in kinder- und jugendpsychiatrischen Praxen. Dieses geschieht häufig auf Veranlassung der Lehrkräfte, die Indikation „nicht beschulbar" wird offensichtlich in der Annahme einer zugrundeliegenden kinderpsychiatrischen Störung gestellt. Tatsächlich werden oft Entwicklungsverzögerungen und Verhaltensauffälligkeiten festgestellt, aufgrund derer die Kinder den Anforderungen des Regelunterrichtes nicht gewachsen sind. Sekundär haben sich Anpassungsstörungen entwickelt, die sich negativ auf das Verhalten der Kinder, aber insbesondere auch auf ihr Selbstwerterleben, ihre Leistungsfreude und Motivation auswirken.
Die Schüler entwickeln Ängste und psychosomatische Symptome, die sich in einem negativen Kreis bis hin zur Schulangst/Schulvermeidung oder drohendem Schulausschluss steigern und nur durch intensive pädagogische und therapeutische Maßnahmen behandeln lassen. Häufig verbringen diese überforderten Kinder drei Jahre im Eingangsbereich der Grundschule, was in den meisten Fällen mit einem Wechsel der Klasse und des sozialen Bezugssystems verbunden
ist. So prägen Misserfolg, Überforderung und Verlust von sozialen Bindungen sowie mangelnde Integration das Hineinwachsen in die Regelbeschulung.
Mit Besorgnis beobachten wir darüber hinaus die Zunahme von Paragraph 35a SGB VIII-Gutachten, die Kindern eine seelische oder drohende seelische Behinderung attestieren; und die steigende Zahl der notwendigen Schulbegleitungen einzelner Schüler durch nicht ausgebildete Integrationshelfer.

Ähnliche Erfahrungen machen wir in den sozialpädiatrischen Zentren und in unseren Kinder- und Jugendarztpraxen schon vor der Einschulung. Unsere Arbeit in diesem Bereich ist bereits präventiv ausgerichtet, so dass wir durch unsere Vorsorgen bzw. umfangreiche Entwicklungsdiagnostik frühzeitig Defizite in den verschiedenen Entwicklungsbereichen feststellen können und ggf. einer Therapie zuführen.
So hatten bereits 42,5 % der Erstklässler des Schuljahres 2010 / 2011 in Schleswig-Holstein Förderungen in den Bereichen Ergotherapie, Physiotherapie, Logopädie und/oder Heilpädagogik erhalten. Trotzdem finden sich bei diesen Schulanfängern noch häufig Verhaltensauffälligkeiten (25,2%), Sprachauffälligkeiten (25%) und Auffälligkeiten in der Motorik (17,2%) [Bericht über die Untersuchung der Kinder- und Jugendärztlichen Dienste und Zahnärztlichen Dienste in Schleswig-Holstein des Schuljahres 2010/11].
Nicht zuletzt mit der Einführung der Inklusion sind bewährte Strukturen wie die Sprachheilschule, der Schulkindergarten oder das kostenlose letzte Kindergartenjahr ohne oder mit unzureichendem Ersatz gestrichen worden. In Diskrepanz zu den deutlich heterogenen Entwicklungsprofilen erfolgt die Einschulung aller Kinder zu einem festgelegten Alterszeitpunkt in den Regelunterricht. Schleswig-Holstein ist das Bundesland mit der höchsten Inklusionsrate. Nur etwa 50% der Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarf werden noch an Förderschulen unterrichtet, im Gegensatz dazu 100% in Niedersachsen und Saarland [Statistisches Bundesamt]. Eine ausreichend individuelle Förderung jedes einzelnen Kindes ist z.Z. aber an unseren Schulen nicht flächendeckend möglich. Wenn wir auch den Gedanken der Inklusion prinzipiell unterstützen, fehlt es derzeit an den Voraussetzungen, das Konzept ohne Schaden für die betroffenen Kinder und ihre Familien umzusetzen. Für Erziehung, Förderung und Bildung ist die Herkunftsfamilie die wichtigste Instanz und damit entscheidender Risikofaktor für Bildungs- und Verwirklichungschancen.
Vorschulische und schulische Sozialisation müssen Schutzfaktoren und dürfen nicht zusätzliche Belastungsfaktoren sein. Chancengleichheit erfordert individuelle Unterstützungsstrukturen im Sozialraum Schule. Wenn der Regelunterricht die individuelle Förderung des einzelnen Kindes nicht ermöglicht, werden aus Schülern Patienten. Der Patientenstatus verlagert das Problem.
Darum wenden wir uns mit einem Wunschzettel an Sie.
Bitte setzen Sie sich für eine ausreichend qualitative und quantitative Ausstattung unserer Schulen ein, für genügend Pädagogen, Sonderschulpädagogen, Schulsozialarbeiter, aber auch Sprachpädagogen, Logopäden und Ergotherapeuten. Erlauben Sie unter den gegenwärtigen Bedingungen eine Einschulung zu einem für das Kind individuell optimalen Zeitpunkt. Auch die Kindergärten können zu einer besseren Förderung der Kinder beitragen und müssen
über notwendige Ausstattung und Personal verfügen. Gute Ansätze sind zum Beispiel Vorschulförderung und Sprintprogramme, die aber noch lange nicht in allen Kindergärten vorgehalten werden. Sinnvoll erscheint uns weiterhin die Wiedereinführung der Beitragsfreiheit für das letzte Kindergartenjahr.
In unseren Fachgesellschaften entwickelt sich ferner ein Konsens für die Notwendigkeit, im Unterricht individuelle Stärken und Fortschritte stärker zu betonen. Auch wir sind für eine dringend notwendige Erneuerung des Schulsystems, die den gesellschaftlichen Entwicklungen und Anforderungen gerecht wird. Aus fachärztlicher und entwicklungspsychologischer Sicht sind individuelle ressourcenorientierte Förderung, Verlässlichkeit in den sozialen Bindungen
und ein wertschätzender Umgang die Grundlage einer gesunden Kindesentwicklung. Bitte tragen Sie Sorge dafür, dass diese Grundlagen in unserem Schulsystem verankert werden und fördern Sie die interdisziplinäre Zusammenarbeit.
Bei der Fortsetzung des derzeitigen ideologisch geprägten Innovationsansatzes, mit gleichzeitigen finanziellen und personellen Einsparungen, wird eine zunehmende Pathologisierung und Psychiatrisierung unserer Kinder in Kauf genommen. Verhindern Sie eine zunehmende Überforderung der Lehrer und Eltern sowie eine Beschämung der Kinder.
Wenn Eltern und Lehrern das Lachen vergeht, dann haben auch die Kinder nichts mehr zu lachen.
Für den „return of investment" gibt es eindrucksvolle Belege aus vielen Untersuchungen. Der sorgende Sozialstaat rechnet sich um ein vielfaches günstiger als späte Nachsorge und Versorgung [Friedhelm Pfeiffer/James Hackman].
Wie in der Klimapolitik bedarf es auch für das Familien- und Schulklima weitsichtiger Entscheidungen, die sich nicht in einer Legislaturperiode rechnen. Wir glauben, dass der Verzicht auf diese erst längerfristig wirksamen Investitionen in beiden Feldern vergleichbar katastrophale Spätfolgen zeigen wird.
Wir gehen davon aus, dass unsere Wünsche auch die Ihren sind und hoffen im Interesse der Kinder auf ein baldiges politisches Handeln im Verbund mit anderen Ministerien der Landesregierung.

Mit freundlichen Grüßen,
Ihre ...

Dr. Wolfgang Broxterman
Ärztlicher Leiter des Kinderzentrums    
Pelzerhaken

  Dr. Matthias Rückemann
Kinder- und Jugendpsychiater/      
Psychotherapeuth
Bad Schwartau
  Dr. Josef Althaus
Kinder- und Jugendarzt/
Psychotherapie
Lübeck

Prof. Dr. Ute Thyen
Leiterin des Sozialpädiatrischen
Zentrums der Klinik für Kinder-
und Jugendmedizin des
Universitätsklinikum Lübeck

  Dr. Antje Schüren
Kinder- und Jugendpsychiaterin
Lübeck
  Mechthild Herting
Ärztin
Lübeck

Dr. Julian Spiegler
Kinder- und Jugendärztin
Neuropädiatrie
Universitätsklinikum Lübeck

 

Dr. Martina Mesing
Kinder- und Jugendärztin/
Naturheilverfahren/
Homöopathie
Bad Schwartau  

   

 
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